.png)
Trotz oder Autonomie?
November 3, 2025
Warum die sogenannte Trotzphase eigentlich die Geburtsstunde der Selbstständigkeit ist
Viele Eltern kennen sie – die berühmte „Trotzphase“.
Plötzlich möchte das Kind alles „alleine machen“, sagt laut und deutlich „Nein!“ oder reagiert mit Wut, wenn etwas nicht klappt.
Im Alltag kann das anstrengend sein – und doch steckt in dieser Phase etwas zutiefst Wertvolles: die Entwicklung von Autonomie.
Darum sprechen Pädagoginnen, Psychologen und auch Jesper Juul lieber von der Autonomiephase.
Denn das Wort „Trotz“ klingt nach Widerstand, Konflikt und Machtkampf.
Das Wort „Autonomie“ hingegen beschreibt genau das, was in dieser Zeit geschieht:
Ein kleiner Mensch beginnt, eigenständig zu werden, sich als selbstwirksam zu erleben und eine eigene innere Stimme zu entwickeln.
Wenn wir diese Phase so benennen, wie sie gemeint ist, verändert sich unser Blick:
Wir sehen nicht mehr das schwierige Verhalten – sondern den mutigen Versuch eines Kindes, sich selbst zu entdecken.
Was in der Autonomiephase wirklich passiert
Ein schöner Gedanke aus dem Buch „Das kompetente Kind“ von Jesper Juul beschreibt diesen Prozess so:
Mit ungefähr zwei Jahren beginnen Kinder, sich langsam aus der völligen Abhängigkeit von ihren Eltern zu lösen.
Sie entdecken, dass sie eigene Gedanken, Gefühle und Wünsche haben – und dass sie diese ausdrücken können.
Eines Tages, wenn Eltern beim Anziehen helfen möchten, schiebt das Kind die Hand sanft weg und sagt:
„Ich möchte das selbst machen.“
Das ist kein Ungehorsam – das ist Wachstum.
Es ist der Moment, in dem das Kind erfährt:
Ich bin ich – und ich kann etwas bewirken.
Wenn Eltern trotzig werden
Nicht nur Kinder erleben starke Gefühle in dieser Zeit.
Auch Eltern geraten manchmal in ihr eigenes „Erwachsenen-Trotzalter“ –besonders, wenn die Geduld dünn oder der Terminkalender voll ist.
Sätze wie
„Das geht so nicht!“ oder „Wir haben jetzt keine Zeit!“ sind oft Ausdruck von Stress oder Überforderung.
Doch in Wahrheit begegnen sich hier zwei gleichstarke Bedürfnisse:
Das Bedürfnis des Kindes nach Selbstbestimmung – und das Bedürfnis der Eltern nach Struktur und Sicherheit.
Wenn beide Seiten sich gesehen fühlen, kann daraus ein Dialog entstehen, kein Machtkampf.
Der positive Blick auf Trotz (oder: Autonomie in Aktion)
Aus psychologischer Sicht ist Trotz nichts anderes als der Beginn innerer Unabhängigkeit.
Kinder spüren erstmals, dass sie eine Wahl haben – und sie üben, diese zu nutzen.
Diese Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, ist die Grundlage für jedes spätere, authentische „Ja“.
Sie bildet das Fundament für Selbstbewusstsein, Empathie und Entscheidungsfreude.
Jesper Juul nannte diesen Prozess einen Teil der „gleichwürdigen Beziehung“ zwischen Eltern und Kindern:
Beide sind gleich wertvoll – auch wenn ihre Aufgaben unterschiedlich sind.
Wie Eltern Autonomie fördern können
Autonomie bedeutet nicht, dass Kinder alles entscheiden dürfen.
Sie bedeutet, sinnvolle Entscheidungsräume zu schaffen – kleine, altersgerechte Möglichkeiten, selbst Einfluss zu nehmen.
So lernen Kinder: Ich werde gehört. Ich bin beteiligt. Ich kann etwas gestalten.
Ein einfaches Prinzip dabei ist:
„Entweder-oder“-Fragen mit zwei überschaubaren Wahlmöglichkeiten.
Beispiel:
🪥 Es ist nicht verhandelbar, dass die Zähne geputzt werden.
Aber das Kind darf entscheiden:
„Möchtest du zuerst putzen oder soll ich anfangen?“
oder
„Welche Zahncreme nehmen wir heute – Erdbeer oder Minze?“
👕 Beim Anziehen:
„Möchtest du heute das rote oder das blaue T-Shirt?“
– statt: „Was willst du anziehen?
🥣 Beim Essen:
„Magst du dein Müsli mit Milch oder Joghurt?“
– statt: „Was willst du frühstücken?“
Diese kleinen Wahlmöglichkeiten fördern Selbstwirksamkeit, ohne das Kind zu überfordern oder den Rahmen aufzulösen.
Kinder erfahren: Meine Meinung zählt – aber Mama oder Papa bleiben verlässlich an meiner Seite.
Und das ist der Kern von Autonomie: Freiheit in Beziehung.
Mini-Tipp für Eltern
Atme.
Dann nochmal.
Erinnere dich: Dein Kind ist nicht gegen dich – es ist für sich selbst.
Es kämpft nicht um Macht, sondern um Selbstständigkeit.
Ein Satz wie
„Ich sehe, du möchtest das selbst probieren. Soll ich dir zeigen, wie es geht?“
verbindet und gibt Orientierung – ohne das Bedürfnis des Kindes zu bremsen.
Und wenn’s mal kracht, hilft Humor:
„Heute übt mein Kind Selbstständigkeit – und ich Gelassenheit.“ 😅
Mini-Tipp für Kinder (mit Augenzwinkern)
Wenn Mama oder Papa wieder ungeduldig werden, schau sie liebevoll an und sag:
„Ich übe gerade, groß zu werden.“
Das erinnert sie daran, dass ihr beide auf derselben Seite steht – nur an unterschiedlichen Stationen eures Wachstums.
Fazit
Die sogenannte Trotzphase ist keine Krise, sondern ein natürlicher Schritt in die Selbstständigkeit.
Wenn wir sie Autonomiephase nennen, ehren wir das, was wirklich geschieht:
Ein Kind wächst in seine eigene Persönlichkeit hinein – und die Eltern wachsen mit.
Trotz ist also kein Sturm gegen uns, sondern der erste Windhauch des eigenen „Ich“.
Oder, um es mit Jesper Juul zu sagen:

.png)
