
Warum es Zeit ist, mit der Erziehung aufzuhören – und warum Jesper Juul recht hat
December 6, 2025
Es gibt Phasen im Elternsein, die sind kein sanfter Übergang, sondern ein inneres Beben. Plötzlich steht da dieses
Kind, das früher Hand in Hand mit uns durch den Alltag ging, uns vertraute, lachte, fragte – und jetzt sagt es:
„Ich will das selbst entscheiden!“
Und da stehen wir, mit all unserer Liebe, Erfahrung und Unsicherheit und merken: Die alten Rezepte greifen nicht mehr.
Vielleicht ist das genau der Moment, von dem Jesper Juul spricht, wenn er sagt:
„Wir müssen mit der Erziehung aufhören.“
Nicht, weil Kinder keine Eltern mehr brauchen– sondern weil sie in dieser Phase etwas anderes von uns brauchen:
Beziehung, Vertrauen, Halt auf neue Weise. Manchmal hilft es, sich für einen Moment an die eigene Jugend zu erinnern.
Wie war das damals? Wie fühlte sich Pubertät an? War es eine Zeit des Verstehens – oder des Missverstandenwerdens?
Wurden Sie gesehen – oder nur bewertet?
Und was hätten Sie sich gewünscht? Mehr Freiheit? Mehr Vertrauen? Oder einfach jemanden, der Sie versteht, ohne
Sie zu verändern? Wenn wir als Eltern diese Fragen ehrlich beantworten, spüren wir oft: das, was wir uns damals
gewünscht hätten, ist genau das, was unsere Kinder heute von uns brauchen.
Kleinkinder brauchen Führung, Rituale, Halt und Struktur. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Sicherheit geben,
Entscheidungen treffen, Grenzen liebevoll halten – und die dabei in innerem Kontakt mit sich selbst bleiben. Doch in
dieser frühen Phase ist eines besonders wichtig: die Haltung, dass jedes Kind willkommen ist. Willkommen mit seiner
Energie, seiner Sensibilität, seinen Gefühlen und seinem Temperament.
Und genauso wichtig: Jedes Nein ist willkommen. Denn ein Nein ist keine Ablehnung, sondern ein Zeichen von innerer
Lebendigkeit, von Autonomie. Ein Kind, das Nein sagen darf, spürt: Ich darf ich sein.
Diese Haltung - „Du darfst da sein, so wie du bist, mit deinem Ja und deinem Nein“ - legt das Fundament für eine stabile,
tragfähige Bindung. Einen Bindungsfaden, der später, in der Pubertät, stark genug ist, um Spannungauszuhalten, ohne
zu reißen. Denn mit Beginn der Pubertät verändert sich alles. Das Kind, das uns jahrelang vertraut hat, vertraut uns
vielleicht noch immer, während es beginnt, sich selbst zusuchen. Jesper Juul beschreibt diesen Wandel so klar:
„Jetzt hab ich zwölf Jahre lang mit meinen Eltern kooperiert, habe gedacht, sie seien die besten Eltern der Welt. Jetzt
bin ich nicht mehr so sicher, jetzt muss ich selbst ausprobieren, was richtig für mich ist.“
Das ist keine Ablehnung, keine Rebellion gegen uns - es ist der natürliche, gesunde Prozess des Erwachsenwerdens.
Aber dieser Prozess prüft die Bindung, die wir gemeinsam aufgebaut haben. In der Pubertät wird der Bindungsfaden
zwischen Eltern und Kind oft stark strapaziert. Und das ist gut so. Denn nur ein Faden, der bereits in den frühen Jahren
strapazierfähig geworden ist, kann diese Spannung aushalten, ohne zu reißen. Wenn unsere Verbindung stabil ist -
auf Vertrauen, Echtheit und Liebe gegründet - dann hält sie auch Stürme aus. Ist sie jedoch dünn, fragil oder voller
unausgesprochener Erwartungen, dann kann schon eine kleine Erschütterung das Band ins Wanken bringen. Deshalb ist
Bindung keine Phase,sondern ein fortlaufender Prozess. Und in der Pubertät zeigt sich, wie tragfähig er wirklich ist.
Jesper Juul nennt es, „vom Erzieher zum Sparring-Partner“ zu werden. Ein Sparring-Partner bietet Widerstand,
aber ohne Macht. Er gibt Rückmeldung, aber keine Strafen. Er bleibt im Gespräch – auch, wenn’s unbequem wird.
„Die Aufgabe der Eltern ist es, maximalen Widerstand zu bieten und minimalen Schaden anzurichten.“
Das klingt nüchtern, ist aber zutiefst liebevoll. Denn echte Beziehung hält Spannung aus. Sie braucht Reibung, Ehrlichkeit,
Respekt – aber keine Kontrolle. Wenn die Tochter im Minirock das Hausverlässt, dürfen wir sagen, was wir denken. Aber
wir dürfen nicht verbieten. Denn sobald Macht ins Spiel kommt, verliert Beziehung ihren Boden.
Jugendliche brauchen uns – nicht als Richter, sondern als Gegenüber.
„Ich möchte mit dir sprechen.“ So einfach kann Beziehung beginnen. Wenn das Kind nein sagt – dann warten. Und
nochmal fragen. Und wieder warten. Und irgendwann, wenn die Tür sich öffnet, dürfen wir sprechen. Ehrlich, klar,
respektvoll. Ohne Druck. Vielleicht kommt keine sichtbare Reaktion. Aber im Inneren bleibt etwas zurück. Kaum ein
Jugendlicher wird sagen: „Danke, das war gut von dir.“ Aber viele denken es – und reden mit ihren Freunden
darüber. So bleibt Familie wichtig, auch wenn sie manchmal still wirkt.
Jesper Juul sagt hier: „Es gibt vieles, das Jugendliche brauchen. Aber erstens und letztens brauchen sie Vertrauen,
Vertrauen und noch mehr Vertrauen.“
Doch Vertrauen heißt nicht: „Ich glaube, du machst es so wie ich.“ Sondern: „Ich glaube, dass du dein Bestes tust.“
Das ist ein riesiger Unterschied – und ein Geschenk, das Freiheit schenkt. Denn wer ständig beweisen muss, dass er
vertrauenswürdig ist, lernt nur eines: gehorsam zu sein. Aber nicht, sich selbst zu vertrauen. Und genau das ist das
Gegenteil von Erwachsenwerden.
Erziehung ist Vorbild sein – und sonst nichts als Liebe
Am Ende bleibt es so einfach. Unsere Kinder brauchen kein perfektes Erziehungssystem, keine cleveren Methoden, keine
Machtspiele. Sie brauchen uns – echt, ehrlich, liebevoll. Und wenn sie dann flügge werden, wenn sie sich langsam lösen
und ihren eigenen Weg gehen, dürfen wir lernen, was „Loslassen in Liebe“ wirklich bedeutet.
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„Loslassen in Liebe – wenn die Kinder flügge werden“ – ein Begleiter für Eltern, die spüren: Jetzt ist nicht mehr Erziehung
gefragt, sondern Vertrauen - und Liebe, die trägt, auch wenn die Kinder ihre eigenen Flügel entfalten.
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